Dieses Interview über ein Thema, an das ich mich in meinem Roman Die Bibliothek der zweiten Chancen nur mit einem gewissen Abstand herangetraut habe, hat mich besonders berührt. Amöna Landrichter spricht über die Angst vor dem Verlust des Partners oder der Partnerin und davon, dass das Leben irgendwann wieder mehr Platz neben der Trauer einnimmt.


Liebe Amöna, magst du dich und deine Arbeit kurz vorstellen?
Sehr gern!
Ich heiße Amöna Landrichter und bin 43 Jahre alt. Ich bin seit 11 Jahren verheiratet und ich habe zwei Bonuskinder, die 20 und 25 Jahre alt sind. Gemeinsam mit meinem Mann bin ich vor drei Jahren von Berlin nach Schweden aufs Land gezogen. Hier arbeite ich zum einen als Gesprächstherapeutin in einem stationären Hospiz und zum anderen freischaffend als Coach zum Thema Verlustangst.
Du hast ein kleines Buch für Menschen geschrieben, die Angst haben, einen geliebten Menschen zu verlieren. Als Hospizmitarbeiterin und Trauerbegleiterin geht es dir dabei nicht um die diffuse Angst, die wir vielleicht alle um unsere Lieben manchmal haben, sondern um Fälle, in denen es etwa eine schlimme Diagnose gibt. Was brauchen Menschen in solchen Zeiten besonders? Von ihrer Umgebung, aber auch von sich selbst?
Halt und Zeit mit sich selbst.
Halt: etwas oder jemand, der da ist, auch wenn alles andere wankt. Das können ganz unterschiedliche „Instanzen“ sein – ein anderer Mensch, ein besonderer Ort, Spiritualität, ein Hobby – etwas, bei dem man zur Ruhe kommt.
Von den Menschen im Umfeld braucht es vor allem jene, die einfach da sind. In solchen Krisen unterstützen die, die auch schweigen können, die z.B. eine Suppe vorbeibringen, die die Kinder für ein paar Stunden nehmen oder den Abwasch machen. Hilfe, die direkt wirkt.
Zeit mit sich selbst ist meist schwerer, aber umso wichtiger. In der Angst oder im Verlust selbst fokussiert man sich ja oft auf das Außen – den, der stirbt und all die Umstände, die damit einhergehen. Das ist natürlich in solchen Krisen, macht aber auch, dass man nicht mehr richtig weiß, was man selbst braucht, um diese Zeit durchzustehen. Deswegen empfehle ich, dass man sich täglich einen Moment (eine halbe Stunde wäre schon wunderbar) nimmt, in der man kurz bei sich „eincheckt“ und sich fragt, was man jetzt gerade braucht. Und sich am besten dieses Bedürfnis auch erfüllt.
Aber kann eine Vorbereitung auf die Zeit nach dem Tod den Schmerz überhaupt lindern? Ist das nicht ohnehin so unvorstellbar, dass wir im Vorhinein gar nicht viel tun können?
Der Schmerz wird durch eine Vorbereitung leider nicht weniger. Aber – und das habe neulich auch wieder gelesen – Forschungen verzeichnen eine Verkürzung der Trauer, wenn Menschen sich auf den Verlust vorbereitet haben.
In der Verlustangst versuchen wir ja grundsätzlich schon, uns vorzubereiten. Wir spielen Szenarien durch, meist bleiben wir aber bei der Schreckensvorstellung.
Und hier setze ich in meiner Arbeit an: wenn wir beginnen, den Verlust weiterzudenken (und zu fühlen), so können wir überlegen, was wir zum Beispiel brauchen werden. Oder wir denken an Krisen, die wir schon überlebt haben. Und durch das Weiterdenken erhalten wir die Möglichkeit, Rituale oder Gedanken zu verfestigen, die uns dann im Verlust ein Stück tragen können. Außerdem kann das Gefühl der Ohnmacht sich verringern, weil wir uns vorher schon damit auseinandergesetzt haben.
Die Menschen, die du im Hospiz begleitest, wissen in der Regel, dass der Tod bald auf sie und ihre Angehörigen zukommt, so dass eine bewusste Vorbereitung möglich ist. Siehst du bei der Verarbeitung dadurch einen Unterschied zu Menschen, die Nahestehende plötzlich verlieren?
Ja und nein. Sie haben die Möglichkeit der Vorbereitung, es ist aber auch oft eine große Herausforderung sich – gerade bei jüngeren Menschen – immer wieder mit der empfundenen Ungerechtigkeit des Sterbens auseinanderzusetzen. Da fragt dann eine Tochter: „Warum stirbt mein Papa, der so viel Gutes in die Welt gebracht hat und nicht jemand, der eh nichts mit seinem Leben anfangen kann?“
Außerdem bedeutet das Wissen nicht, dass sich die Menschen automatisch damit auseinandersetzen. Es gibt viele Angehörige, die kämpfen bis zum Schluss und können einfach nicht akzeptieren, dass ihr Herzensmensch sterben wird.
Was hast du durch die Trauerarbeit für das Leben gelernt? Was berührt dich in der Begegnung besonders?
Die Dankbarkeit für die Menschen in meinem Leben ist mir sehr präsent. Wenn ich merke, dass ich mich über eine Kleinigkeit aufrege, dann kommt schnell die Frage, ob es das wirklich wert ist.
In der Begegnung mit den Menschen und ihren Geschichten bewegt mich ihre individuelle Form des Abschieds. Neulich durfte ich dabei sein, wie sich jedes Kind einer großen Patchworkfamilie beim Vater für sein Dasein als (Bonus)papa bedankt hat. Diese Momente bewegen mich sehr und sind ein einzigartiges Geschenk.
In deinem Buch geht es auch sehr um die Frage, was der oder die „Hinterbliebene“ ohne den geliebten Menschen ist. Welche Leerstelle für die Beziehung entsteht. Was würdest du Menschen raten, die Angst haben, ihre Identität zu verlieren ohne den Partner, die Partnerin?
Ich finde hier die Begegnung mit mir sehr wichtig. Das heißt ganz praktisch: mir Möglichkeiten geben, um mich selbst zu kümmern. Wenn mir das schwerfällt, kann ich daran denken, wie ich es auch beim anderen mache: mich fragen, was ich jetzt brauche (Ruhe, Gespräch, Entspannung, Bewegung etc.) und dafür sorgen, dass ich es bekomme.
Dazu kommt das Wahren von Grenzen – meiner eigenen (dass ich mich nicht im anderen aufgebe) und die der anderen (dass der andere seine Zeit so leben darf, wie er möchte).
Manchmal musste ich schmunzeln, wenn es etwa um ganz praktische Dinge geht, die der andere immer übernommen hat. Spielen die Frage danach, wer etwa immer den Urlaub bucht oder den Rasen mäht in solchen Momenten wirklich eine Rolle?
Interessanterweise ja. Wir sprechen im Hospiz, egal wieviel Zeit noch bis zum Sterben des anderen ist, oft über praktische Sachen. Neulich habe ich zum Beispiel mit unterschiedlichen Familienmitgliedern über einen Bootsverkauf gesprochen. Aber auch über kleine Sachen – denn hier zeigt sich der Verlust im Alltag so deutlich. Ich vermisse den anderen ja nicht nur an Feiertagen oder im Urlaub, sondern genau dort, wo er oder sie mein Leben bereichert und komplettiert hat.
Dein Buch kommt völlig ohne einen Gedanken zu einem Leben nach dem Tod oder eine spirituelle Ebene aus. Für mich ist der Glaube an ein Weiterleben der Seele sehr tröstlich, gleichzeitig sind Floskeln „Sie ist jetzt an einem besseren Ort“ manchmal nur daher gesagt. Spielt Spiritualität für dich eine Rolle in der Trauerbegleitung? Oder möchtest du bewusst nur mit dem arbeiten, was wir ganz konkret wissen und beeinflussen können?
Für mich persönlich spielt Spiritualität eine wichtige Rolle. Ich habe aber aus meiner eigenen Geschichte und aus vielen Begegnungen gelernt, dass ich gerade bei dieser Frage entweder einladen oder verschrecken kann – oft sehr polarisierend. Das ist ein ganz persönliches Thema, das eben seine eigene Geschichte mit sich bringt. Für mein Buch fehlte mir die Möglichkeit, es ausreichend herzuleiten und zu beschreiben, sowohl vom Umfang als auch vom Inhalt. Ich hatte Sorge, es zu viel oder zu unzureichend anzusprechen. In meinen Vorträgen erwähne ich es aber, weil ich dann direkt auch auf Fragen und Anmerkungen reagieren kann.
Und in der Arbeit im Hospiz sowieso, da erfrage ich dann aber erstmal, welche Vorstellung die- oder derjenige hat und ob ein Impuls von mir gewünscht wird.
Schmerz, Angst und Trauer über bzw. vor einen (möglichen) Verlust sind ja auch ein Ausdruck davon, wie viel uns der andere Mensch bedeutet. Wie können wir diese Bedeutung auf andere Weise mehr leben?
Das ist eine wunderbare Frage!
In allererster Linie in Dankbarkeit und auch im Leben und Annehmen dieser Bedeutung. Es ist ja ein Geschenk, dass ich jemandem in meinem Leben habe, der mir so viel bedeutet. Diese Dankbarkeit kann Gespräche ermöglichen, in denen wir uns gegenseitig von unserer Bedeutung berichten und schauen, wo uns das hinträgt. Sicher werden Erinnerungen wach, vielleicht empfindet der/die andere es aber auch als Kompliment und fühlt sich gewertschätzt. Vielleicht trauen wir uns aber auch darüber zu sprechen, wie wir das Leben ohne den anderen Leben könnten und welche Vorbereitungen (z.B. ganz klassisch eine Vorsorgevollmacht) wir treffen sollten.
Selbst wenn wir und unsere geliebten Menschen hundert Jahre alt werden, das Leben ist endlich. Warum hat diese Tatsache auch gute Seiten?
Das muss als erstes jede und jeder für sich selbst beantworten, finde ich. Und dann ist es ja immer die Betrachtungsweise, also von „wo“ aus ich finde, dass es auch gute Seiten hat. In der Begegnung mit dem Sterben habe ich gelernt, dass wir das Leben anders und auch mehr wertschätzen, wenn wir um dessen Endlichkeit wissen.
Manchmal lähmt uns die Angst, unsere Liebsten könnten sterben, auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass dies bald passiert. Wie können wir mehr Leichtigkeit gewinnen und das Hier und Jetzt miteinander genießen, statt Angst vor dem Verlust zu haben?
Als erstes finde ich immer: annehmen, dass ich mich von dieser Angst beeinflussen lasse. Sobald ich nicht mehr dagegen ankämpfe, sondern die Angst in meinem Leben akzeptiere, wird es meist schon mal ein bisschen leichter. Und dann hängt es von der Person und ihrer Angst ab – wann habe ich sie vor allem, auf was bezieht sie sich am meisten, was ist unvorstellbar?
Grundsätzlich haben wir die Möglichkeit, durch eine Veränderung unseres Blicks einen ersten Schritt zu gehen. Damit meine ich: schaue ich auf das, was ich verlieren werde, oder werde ich mir bewusst (mit allen Sinnen), welch großes Geschenk ich JETZT habe?
In meinem Buch stelle ich unterschiedliche Möglichkeiten vor, aus denen man sich einige aussuchen kann.
Du hast Charlotte in meinem Buch begleitet, wie sie fünf Jahre nach dem Tod ihres Mannes noch einmal ganz anders aufblüht und alte Träume lebt. Dazu zwingt sie zunächst ein weiterer „Verlust“, der Auszug der Kinder. Ich habe mich bewusst entschieden, den Roman nicht mit dem akuten Trauerprozess beginnen zu lassen, auch weil ich davor viel Respekt hatte. Erkennst du bei Charlotte Dinge wieder, die du in der Trauerbegleitung erlebst?
Ja, da finde ich einiges wieder. Charlotte ist wieder im Leben und hat sich ihren eigenen Alltag aufgebaut, pflegt ihre Beziehungen, liebt ihren Job.
Durch den Auszug der Kinder wird sie an ihren ersten großen Verlust erinnert, dennoch ist er anders und sie ist viel gefestigter.
Und dann ist ihr verstorbener Mann noch ganz präsent für sie. Eine große Sorge von Trauernden ist ja oft, dass sie den Herzensmenschen loslassen müssen. Und damit verbinden sie, dass sie nicht mehr an ihn denken und die Liebe zu ihm spüren dürfen. Loslassen bedeutet aber eher in dem Kontext, dass ich weiterlebe, mich dem Leben nicht verschließe und akzeptiere, dass der andere gestorben ist. Und genau da setzt Dein Roman ja an – Charlotte hat die Möglichkeit, sich nochmal auf eine neue/ andere Weise dem Leben und der Liebe zu öffnen.
Was würdest du aus deiner Erfahrung allen akut Trauernden mitgeben? Was könnte Zuversicht schenken?
Ich bin ein großer Fan von dem Trauermodell der amerikanischen Trauerforscherin Lois Tonkin. Sie hat mal gesagt: „Die Menschen glauben, dass Trauer langsam und mit der Zeit kleiner wird. In Wirklichkeit bleibt die Trauer gleich groß, aber langsam beginnt das Leben darum größer zu werden.“
Wenn ich das Nahestehenden nach einem Verlust – manchmal auch schon davor berichte – merke ich, wie sie ein Stück ruhiger werden. Man muss nicht krampfhaft daran arbeiten, dass die Trauer kleiner wird – es geht darum, das Leben wieder wachsen zu lassen.
Und was möchtest du allen mitgeben, die Trauernde begleiten?
Gerade in der ersten Zeit der Trauer finde ich es vor allem wichtig, so behutsam wie möglich mit Trauernden zu sein. Sie sind verwundet und je nach Situation und Person in einem Zustand, in dem ihnen der Halt immer wieder abhanden geht. Alles muss sich neu finden, umstellen und beruhigen. Das ist keine Zeit für große Verhaltensänderungen oder Infragestellen, sondern vor allem erstmal eine Begleitung und ein Dasein hinein in die neue Zeit.
Magst du zum Abschluss noch ein Erlebnis teilen, dass dich besonders berührt hat?
Ich habe in vor ca. zwei Jahren eine Familie begleitet, in der der Vater starb. In der Zeit hatte ich mehrere Gespräche mit der Tochter allein und ihrer Familie. Die Mutter hatte kein Bedürfnis mit mir zu sprechen und sagte das auch klar. Für die Tochter war das schwer, weil sie die Not der Mutter erkannte. Nach dem Tod des Mannes bot ich allen, auch der Mutter, an mich zu einem Gespräch zu treffen – wann auch immer. Bei uns im Hospiz kann man bis zu zwei Jahre nach dem Tod sogenannte Nachsorgegespräche wahrnehmen. Die Tochter nahm die Möglichkeit wahr, von der Mutter hörte ich nichts mehr … bis sie 1,5 Jahre später bei uns im Hospiz anrief und um ein Gespräch bat. Darin berichtete sie mir, dass sie die erste Zeit wirklich gut überstanden hätte, sie aber nun nicht mehr weiterkäme und die Trauer so groß sei.
Wir führten daraufhin einige Gespräche, in denen wir den Verlust miteinander anschauten und dann verabschiedete sie sich zurück ins Leben.
Vielen Dank für dieses einfühlsame Gespräch über so wichtiges und doch oft verdrängtes Thema. Für alle, die mehr über Amöna und ihre Arbeit erfahren möchten, gibt es hier weitere Informationen: