Geschwister – Glück und Herausforderung zugleich

Geschwister sind eins der größten Geschenke, das wir unseren Kindern machen können. Passt gar nicht dazu, dass sich manche Geschwister manchmal ganz schön das Leben schwer machen – sogar noch als Erwachsene. Wie können wir Geschwisterbeziehungen in unserer Familie gestalten, damit sie wirklich dauerhaft ein Geschenk sind? (Dieser Artikel ist zuerst im Magazin des Deutschen Kinderschutzbundes erschienen.)

Ich erinnere mich an so viele wunderschöne Momente, die unsere Kinder miteinander erlebt haben: Mein Herz geht auf, wenn ich daran denke, wie unser Ältester mit zwei Jahren seiner kleinen Schwester Bilderbücher mit ernsthafter Miene „vorgelesen“ hat und sie an seinen Lippen hing. Wie unsere Zwillinge in Geheimsprache miteinander sprachen und vor Vergnügen quietschten, weil wir nichts verstanden. Wie unser Jüngster voller Stolz bei einem Schulfest mit den Großen Ball spielen durfte und sie ihn rührend integriert haben. Und auch heute berührt es mich unendlich, wenn ich unsere fünf Kinder zwischen 15 und 25 Jahren gemeinsam erlebe. Zu sehen, dass sie auch unabhängig von uns eine Beziehung führen und oft ein eingeschworenes Team sind. Einer meiner größten Wünsche ist es, dass sie sich auch dann noch wunderbar verstehen und sich gegenseitig unterstützen, wenn wir längst nicht mehr sind. Dass sie für immer Freunde, Verbündete und eben Familie bleiben.
Wahrscheinlich wünschen sich das alle Eltern und wahrscheinlich kommen bei fast allen Eltern Ängste und Zweifel hoch: Wie um alles in der Welt sollen unsere Kinder als Erwachsene liebevoll verbunden bleiben, wenn sie sich jetzt schon wegen Spielzeug in die Wolle kriegen? Wie können wir sie gerecht behandeln und damit ihre Beziehung fördern, wenn unser „pflegeleichtes“ Kind jetzt schon zu wenig Aufmerksamkeit bekommt, weil die ständigen Wutanfälle der kleinen Schwester oder des kleinen Bruders unsere Energie rauben?
Machen wir uns nichts vor, auch wenn Geschwister etwas Wunderschönes, Bereicherndes sein können und wir mit ihnen meist auf eine ganz andere Art verbunden sind als mit Freunden, bieten Geschwister auch jede Menge Konfliktpotential. Geschwister müssen sich die Ressourcen in der Familie teilen. Zeit, Aufmerksamkeit, Platz und Geld sind nicht unbegrenzt vorhanden und es besteht eine reelle Chance, dass Geschwisterkinder auch mal zu kurz kommen.

Erst einmal den Druck herausnehmen

Ganz klar, Kinder und damit auch Geschwister sind ein Geschenk − aber keins von der Wunschliste, das man ganz genau aussuchen kann, sondern eher ein riesengroßes Überraschungsei. Zum Glück, denn hätten wir uns unsere wunderbaren Kinder mit all ihren Eigenschaften und Herausforderungen genau so ausdenken können? (Zum Gestaltungsspielraum kommen wir gleich).
Wenn alles gut läuft, sind unsere Kinder Seelenverwandte und teilen ihre Vorlieben und Interessen, was uns den Geschwisteralltag erleichtert. Vielleicht sind unsere Kinder aber auch grundverschieden und es ist schon eine logistische Herausforderung, wenn der eine in Ruhe basteln und Bücher lesen möchte, während die andere den ganzen Tag draußen toben will. Wir können noch so sehr den idealen Geschwisterabstand oder die Kinderzahl planen, manchmal wirbelt die Kombination an Charakteren oder auch eine Krankheit oder Behinderung die Dynamik durcheinander. Auch äußere Umstände wie ein Jobverlust, eine Trennung, eigene Eltern, die Pflege brauchen, oder eine Pandemie beeinflussen die Familiendynamik. An ganz vielen Tagen sind wir gerade mit kleinen Kindern einfach nur froh, wenn sie sich nicht die Haare ausreißen. Daher dürfen wir erst einmal den Druck rausnehmen: Geschwister müssen genauso wenig immer beste Freunde sein, wie wir nicht immer die besten Mütter oder Väter, geschweige denn Partner*innen sind.

Und alles ist im Wandel

Bei uns gab es Zeiten, in denen sich die Kinder darüber beschwert haben, dass sie so viel von unserer elterlichen Fürsorge teilen mussten – und ja, ganz klar auch gecheckt haben, dass Einzelkinder oft die cooleren Klamotten, Geschenke, Reisen bekommen. Und manche Kommentare über Großfamilien haben das Gefühl, benachteiligt zu sein, auch mal befeuert. Doch mittlerweile finden sie es (meistens) richtig schön, so viele Geschwister zu haben. Es kam sogar öfter die Bemerkung, dass es ja ruhig noch einer mehr hätte sein können (etwas, was sich der Jüngste schon immer gewünscht hatte). Auf manches haben wir Eltern keinen Einfluss und ein schlechtes Gewissen, weil die Anzahl der Geschwister, der Abstand, die Umstände ungünstig sind, hilft niemandem. Konzentrieren wir uns lieber auf die Faktoren, die wir beeinflussen können, und nutzen unseren Gestaltungsspielraum.

Die eigene Geschwisterbiografie anschauen

Wie können wir von unseren Kindern Frieden und Eintracht erwarten, wenn die Beziehung zu unseren eigenen Geschwistern belastet ist? Manchmal wünschen wir uns die Harmonie auch deshalb so sehr, weil in unserer Ursprungsfamilie seit Generationen dieselben Konflikte für Streit oder Distanz sorgen. Und wenn sich dann unsere Kinder um eine Playmobilfigur zanken, malen wir uns aus, wie sie in fünfzig Jahren um das Erbe streiten. Und ja, es ist gar nicht so unwahrscheinlich, dass wir Konflikte weitertragen, wenn wir sie nicht aktiv anschauen und ganz bewusst versuchen, die Beziehungen zu unseren eigenen Geschwistern zu verbessern.
Manchmal projizieren wir auch unsere eigenen Erfahrungen auf unsere Kinder. Als Älteste von drei Schwestern hatte ich schneller Mitgefühl mit dem Ältesten, wenn die „Kleinen“ ihn nervten, während meine jüngste Schwester wahrscheinlich eher das Bedürfnis der „Kleinen“ nachempfinden konnte, dazuzugehören.

Wenn wir öfter die Perspektive wechseln und eine gute Beziehung mit unseren eigenen Geschwistern führen, können wir unseren Kindern Vorbild sein und ihnen ein weiteres Geschenk machen: eine gute Beziehung zur Tante oder zum Onkel. Aber auch hier ist es hilfreich, die Erwartungen zu hinterfragen und gegebenenfalls auch Grenzen zu setzen. Wichtig ist vor allem nur, dass wir uns das bewusst anschauen, statt zum Spielball des Unterbewusstseins zu werden und Konflikte an unsere Kinder weiterzutragen, die nicht ihre sind.

Versuchen Sie erst gar nicht, alle gleich zu behandeln.

Es soll Eltern geben, die sich den Timer stellen, um mit jedem Kind gleich viel Zeit zu verbringen. Oder bei denen jedes Kind auch zum Geburtstag der Schwester oder des Bruders ein Geschenk bekommt. Ich erinnere mich an meine Mutter, die wirklich sehr achtsam mit Geld umging, uns aber eine Zeitlang allen dreien das gleiche Mickey-Maus-Heft gekauft hat, damit wir uns nicht um das Gimmick stritten. Natürlich fanden wir genug andere Gründe, uns ungerecht behandelt zu fühlen, während das Plastikspielzeug schnell vergessen war. Ich erinnere mich mit einem warmen Gefühl an diese Geste, also hat sie ihren Zweck bei mir als Kind erfüllt, aber jedes Kind hat ganz unterschiedliche Bedürfnisse. Und die Bedürftigkeit ändert sich auch ständig.
Unsere Hebamme hat uns nach der Geburt des zweiten Kindes einen guten Tipp gegeben. Wir sollten den Älteren, damals eindreiviertel Jahre alt, fragen, ob es okay wäre, wenn wir uns dem Baby zuwenden, wenn es schreit, auch wenn das bedeutet, das Spiel mit ihm zu unterbrechen. Die allermeisten Kinder würden sich dann nämlich für das Baby entscheiden und hätten gleichzeitig das Gefühl, ernst genommen zu werden.

Kinder spüren sehr gut, wer gerade wirklich mehr braucht oder ungerecht bevorzugt wird.

Ein schlechtes Gewissen, etwa weil eins Ihrer Kinder zum Beispiel auf Grund einer Krankheit mehr Fürsorge braucht als die Geschwister, ist unnötig, solange Sie versuchen, für Ausgleich zu sorgen. Manchmal reicht schon die halbe Stunde extra, in der Sie mit dem anderen Kind ein Spiel spielen oder vorlesen. Ungleichheit in Bedürfnissen und Charakteren anzuerkennen und die eigenen Grenzen zu akzeptieren, entlastet, entbindet aber natürlich nicht davon, sich immer um Gerechtigkeit zu bemühen.

Unterschiedliche Sprachen der Liebe

Das Wichtigste für jedes Kind ist es, sich sicher und geliebt zu fühlen. Sich weniger geliebt zu fühlen als die Geschwisterkinder, ist schmerzlich und verunsichernd. Umso trauriger, wenn es nicht an der Liebe an sich mangelt, sondern diese nur nicht beim Kind ankommt. Hier ist Gary Chapmans Konzept von den verschiedenen Liebessprachen hilfreich. Wenn Sie Ihre Liebe am liebsten durch Worte ausdrücken und alle Kinder gleich in lieben Worten baden, kann es dennoch sein, dass eins Ihrer Kinder sich nur geliebt fühlt, wenn Sie ihm ganz praktisch helfen, egal ob beim Sortieren der Spielsachen oder beim Anziehen. Vielleicht hatten Sie selbst Eltern, die zwar immer gekocht und Sie zuverlässig versorgt, aber mit gemeinsamer Spielezeit gegeizt haben. Ihrer Schwester war das vielleicht sogar recht, während Sie sich vernachlässigt gefühlt haben. Die unterschiedliche Liebessprache der eigenen Kinder herauszufinden, lohnt sich, damit jedes Kind sich gleich geliebt und gesehen fühlt.

Gemeinsame Erinnerungen und Erlebnisse schaffen

So wichtig Zeit mit jedem einzelnen Kind alleine auch ist, so wichtig ist es, bewusst gemeinsame Erlebnisse für alle zu schaffen. Es müssen keine außergewöhnlichen Reisen oder Aktivitäten sein, aber feste Familienrituale, Ausflüge, Spiele oder Filmabende schaffen gemeinsame Erinnerungen. Das klingt so selbstverständlich, aber wir hatten eine Zeit, in der wir uns aus Sorge, auch jedem Kind gerecht zu sein, viel zu sehr darauf konzentriert hatten, dass jedes Kind auch mal Mama und Papa für sich hatte, dass wir gemeinsame Freizeitaktivitäten vernachlässigt haben. Wenn die Kinder erst mal (fast) erwachsen sind, wird es immer komplizierter, alle zusammenzubekommen. Umso schöner war es, als wir es nach längerer Pause noch einmal geschafft haben, mit allen Kindern in den Urlaub zu fahren. Und für alle, die gerade Urlaub mit Kleinkindern oder Teenagern sehr anstrengend finden, ist es vielleicht eine schöne Aussicht, dass es irgendwann wieder ganz entspannt werden kann.

Lasst die Kinder Verbündete sein

Angeblich streiten sich normale Geschwister mindestens drei Mal die Stunde. Das hört sich nach viel an, allzu harmonische Geschwisterbeziehungen können aber auch problematisch sein, beispielsweise wenn sich Kinder in ihrem Zuhause nicht sicher fühlen und deshalb das Gefühl haben, sich gegen die Eltern (auf ungesunde Weise) verbünden zu müssen. Oder wenn Kinder in die Elternrolle für ihre Geschwister schlüpfen, weil Mutter oder Vater überfordert sind. Die Psychologin Ingrid Meyer-Legrand vergleicht solche Geschwisterbeziehungen mit der von Hänsel und Gretel aus Grimms Märchen und sieht sie vor allem in der Kriegsenkelgeneration häufig vorkommen.
Vielleicht beruhigen diese Gedanken Sie ja beim nächsten Streit. Ganz abgesehen davon, dass die Kinder so lernen, Konflikte zu lösen, und dass nicht gleich die ganze Beziehung bei Meinungsverschiedenheiten in Frage gestellt wird.
Was auf jeden Fall ganz wichtig ist: Nicht vergleichen. Das klingt wie eine Binsenweisheit, es hilft aber, unter den Geschwistern keine Konkurrenz und Missgunst zu schüren. Und niemals sollte man Kinder dazu ermuntern, ihre Geschwister zu verpetzen.
Etwas Verantwortung füreinander zu übernehmen, kann Kinder stärken, dabei ist aber Augenmaß und Vorsicht gefragt, der Grat zur Parentifizierung (wenn Kinder glauben, die Elternrolle übernehmen zu müssen) ist schmal. Ältere auch mal auf Jüngere aufpassen zu lassen, ist wohldosiert für alle Seiten ein Gewinn, aber zu viel Verantwortung kann eine schwere Bürde sein.

Den Blick für das Gute schärfen

Um die Familien- und Geschwisterdynamik zu stärken, hilft gerade in schwierigen Zeiten immer wieder ein Blick auf das Gute. Wir haben mal jedes unserer Kinder gefragt, was es an jedem anderen besonders mag und die Sammlung an teils überraschenden Komplimenten jedem vorgelesen. Das war wunderschön und gleichzeitig auch überraschend, weil die Kinder noch mal einen ganz anderen Blickwinkel auf die Stärken ihrer Geschwister hatten als wie Eltern.
Auch gemeinsame Visionen für die Zukunft zu schaffen und liebevolle Rituale und Familientraditionen über die Kinderzeit hinaus zu pflegen, stärkt das Gemeinschaftsgefühl. Natürlich immer in aller Freiheit, spätestens dann, wenn die Kinder ihre eigenen Wege gehen.
Geschwisterbeziehungen sind wie alle anderen Beziehungen eben nicht nur Schicksal, sondern können von uns gestaltet werden. Je mehr wir unsere Kinder grundsätzlich zu selbstbewussten, kommunikationsstarken und empathischen Menschen erziehen und ihnen Vorbilder sind, desto besser können sie jede Beziehung in ihrem Leben gestalten − auch zu ihren Geschwistern. Anfangs mit unserer Begleitung, später dürfen wir sie auch ganz loslassen und darauf vertrauen, dass sie ein Leben lang eine ganz besondere Beziehung zu ihren Geschwistern behalten werden.

Inspiration für den Familienalltag:

Das Familienkartenspiel Vertillis – selbst gekauft, ausprobiert und für sehr gut befunden

Gerade wenn der Alltag viel zu viel um Orga, Schule und immer dieselben Themen kreist, ist dieses Kartenspiel eine wahre Bereicherung. Die Fragekarten sprechen gezielt Gemeinsamkeiten, Wünsche und Stärken an und erweitern den Horizont. Empfohlen ab acht Jahren, aber je nachdem auch mit jüngeren Kindern möglich oder auch eine gute Idee für ein Spiel mit der Herkunftsfamilie, eigenen Geschwistern, neuen Familienmitgliedern. Zuerst müssen viele über ihren Schatten springen, aber uns hat dieses Spiel schon viel Freude und neue Gedanken geschenkt.

Vertellis Familien Edition − Für Eltern & Kinder. 48 sinnvolle Fragen für mehr Verbindung und Tiefe. Über www.vertellis.de, Preis 19,99 Euro

Gary Chapman: Die 5 Sprachen der Liebe für Kinder. Wie Kinder Liebe ausdrücken. Francke Verlag, ISBN-13 978-3868274370, Preis: 14,95 €

Der Klassiker auf Kinder übertragen, um einen Blick dafür zu bekommen, wodurch unsere Kinder sich geliebt fühlen – und zwar jedes auf seine Weise.

Das Wichtigste: Wenn Sie alleine nicht weiter wissen, scheuen Sie sich nicht, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen!

 

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